Heute bin ich die Erste, die am Ort des Interviews eintrifft. Aufgrund des schönen Wetters haben wir unser Meeting spontan in den Park verlegt und ich schlendere gerade um den Springbrunnen, der das Zentrum des Parks darstellt, als mein Blick auf die beiden fällt. Im ersten Moment bin ich irritiert und sehe nochmal in meinen Unterlagen nach, denn eigentlich habe ich ein Zwillingspaar erwartet. Und richtig, die beiden sollen nicht nur Brüder, sondern auch Zwillinge sein. Zweieiige wie es scheint, denn die beiden Jungs, die sich mir nähern, sehen sich alles andere als ähnlich. Der einzige optische Verbindungspunkt ist die identische Augenfarbe.

“Hi, ich bin Paige”, begrüße ich die beiden mit einem freundlichen Lächeln, als sie mich erreichen und reiche ihnen die Hand. Der Dunkelhaarige, der meine Hand als Erster ergreift, stellt sich mit Sam vor. Also muss Raphael der Blonde sein.
“Raph”, bestätigt er meine Vermutung nur einen Augenblick später und zu dritt bewegen wir uns zu einer Parkbank in der Nähe, um uns dort niederzulassen.
“Schön, dass es geklappt hat”, leite ich das Gespräch ein und schlage die Beine übereinander, während ich das Handy anschalte und sie darüber informiere, dass ich das Gespräch aufzeichne. Sam sitzt aufrecht und hat durchgehend ein höfliches Lächeln auf den Lippen, während Raphael sich mehr oder weniger auf die Bank lümmelt und seinen Blick immer wieder aufmerksam durch die Gegend schweifen lässt. Ich vermute, dass er nicht so entspannt ist, wie er vorgibt zu sein. Neben ihrer Größe sind das Auffälligste an den Beiden die Tätowierungen, die auf der jeweils linken Halsseite pranken. Es sind plakativ gestochene Buchstaben in einem gotisch angehauchten Stil. Auf Sams Hals steht ein R, auf Raphaels Hals ist es ein S – ich vermute, es ist der Anfangsbuchstabe des jeweils anderen.

“Okay, wollen wir beginnen?”
Samuel nickt und auch Raph wendet mir seine Aufmerksamkeit zu, indem er mich ansieht. Der Blick aus seinen Augen lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen, da ich mich von einer Sekunde auf die andere nicht mehr wie eine Reporterin fühle, sondern wie Beute. Erst als Sam seinem Bruder den Ellbogen in die Rippen stößt, blinzelt er und sieht woanders hin.


Paige: Wie wäre es, wenn ihr beiden ein bisschen was über euch erzählt?
Sam: 
Wir sind Brüder und leben im selben Rudel. Offiziell sind wir Anfang zwanzig und Anthony ist unser Alpha.

Als Raphael auch auf meinen auffordernden Blick hin nichts ergänzt, gehe ich zur nächsten Frage über.

Paige: Okay. Ihr lebt als Werwölfe und seid zusätzlich Geschwister. Stimmt es, was man über die Geschwisterbindung sagt?
Raphael: Was sagt “man” denn über die Geschwisterbindung?

Paige: Dass sie euch stärker und gefährlicher macht – aber auch verletzlicher.
Raphael (schnaubt): Niemand macht mich verletzlich …
Sam (rollt mit den Augen und übernimmt das Wort): Ja das ist richtig. Ein Geschwisterteil kämpft härter, wenn es um die Sicherheit des anderen geht. Gerät das Geschwistertier in Gefangenschaft, kann man den Wolf damit aber auch unterdrücken und ausnutzen.

Paige: Ist euch so was schon mal passiert?
Sam: Nein.
Raphael: Besser so. Wer Sam anfasst, lebt auch nicht lange genug, um mich zu erpressen…

Paige: Wie fühlst du dich denn, wenn jemand Sam zu nah kommt?
Raphael: Ich werde wütend. Er ist mein Bruder und ich beschütze ihn.
Sam: Auch wenn du es manchmal echt übertreibst.
Raphael: Wo übertreibe ich denn?!
Sam: Du greifst nicht nur Leute an, die mir an den Kragen wollen, sondern giftest auch jeden Flirt an, der mir über den Weg läuft!
Raphael: Was kann ich dafür, wenn deine Wahl immer so beschissen ausfällt?
Sam: Das geht dich einen Scheiß an!

Offensichtlich habe ich mit der Frage in ein Bienennest gestochen, weshalb ich mich räuspere und versuche, die beiden zu erreichen, ehe sie sich gegenseitig anfallen und prügeln. Da Raphael inzwischen aufgesprungen ist, scheint diese Möglichkeit nicht ganz ausgeschlossen.

Paige: Okay, Sam du fühlst dich also eher unterdrückt von der Geschwisterbindung?
Sam: Ja.
Raphael: Du hast ja auch ne Macke.
Sam: Klappe, Rapha.

Paige: Was würdest du dir denn wünschen, was an der Bindung anders wäre? Was glaubst du, wieso Raphael so besitzergreifend ist?
Raphael: Ich bin nicht besitzergreifend …
Sam: Doch, bist du. Manchmal glaub ich echt, bei dir ist bei der ersten Wandlung was durchgebrannt. Bei mir ist es nicht so schlimm, wie bei dir. Ich will mehr Freiraum. Scheiße man, ich bin erwachsen und brauch dich nicht ständig als Babysitter …
Raphael: Damit Nick zum Zug kommt?
Sam: Damit ICH mal zum Zug komme!

Paige: Wer ist Nick?
Sam: Ein Freund vom Rudel.
Raphael (zeitgleich): Ein Idiot.

Die beiden starren sich wütend an, ehe Sam ein Stück von Raphael abrückt  und sich demonstrativ zu mir umdreht.

Sam: Nick ist der beste Freund von Luna. Wir kennen ihn seit Jahren.
Raphael (giftig): Und er steht auf Sam.

Paige: Ist das denn schlimm? Dass ein männlicher Wolf auf deinen Bruder steht?
Raphael: Nein, aber es ist schlimm, weil es Nick ist.
Sam: Wieso denn?
Raphael: Weil … er ein Idiot ist!
Sam: Weil er Luna das Leben gerettet hat? Oder weil er an MIR interessiert ist und dich nicht leiden kann? Übrigens ist das deine eigene Schuld. Hättest ihn ja nicht dumm anmachen müssen damals.
Raphael schnaubt.
Sam: Was? Nick ist in Ordnung. Du kannst es nur nicht ertragen, wenn sich mir jemand anders nähert, du Glucke.
Raphael: Du kannst mich, Sam! Wir sehen uns, Paige.

Und schon ist Raphael aufgesprungen und lässt uns zurück – Sam verstimmt und mich ziemlich sprachlos.

Paige: Läuft das bei euch immer so?
Sam: In letzter Zeit schon. Nick ist Single und wir verbringen ziemlich viel Zeit mit ihm. Außerdem ist Raphael eh überreizt, wegen Luna.

Paige: Luna habt ihr schon mal erwähnt – wer ist das?
Sam (leiser): Die Frau, die Rapha nicht beschützen konnte.


An dieser Stelle habe ich das Interview beendet und mich von Sam verabschiedet. Ich habe noch den ganzen Rest des Tages über Raphael und sein Verhalten gegenüber seinem Bruder nachgedacht. Sein Beschützerinstinkt scheint sehr überentwickelt zu sein, womit er seinen Bruder in eine Ecke drängt, aus der Sam nur schlecht wieder heraus kann. Aus Sams letzten Worten schließe ich, dass auch der Verlust von der erwähnten Luna eine große Rolle zu spielen scheint.

Ich bin gespannt, was ich aus dem nächsten Interview über das Rudel erfahre.

paige