Es ist einer der ersten schönen Tage diesen Jahres. Die Sonne wärmt und ich schlendere mit meiner schwarzen Lieblingssonnenbrille auf der Nase zu dem Café, in dem wir verabredet sind. Seth ist bereits da und sieht mit seiner strubbeligen Kurzhaarfrisur und dem Dreitagebart umwerfend gut aus. Sobald er mich sieht, umspielt ein verschmitztes Lächeln seine vollen Lippen und er steht sofort auf, um mir den Stuhl zurück zu ziehen. Gekleidet ist er sehr leger in ein helles T-Shirt, ein paar lockere Jeans und dunkelblaue Sneakers.
“Hi, ich bin Seth”, begrüßt er mich mit dunkler Stimme und sofort stellen sich meine Nackenhaare auf.
“Ich bin Paige, freut mich”, grüße ich zurück und bin augenblicklich gefangen von diesen absolut faszinierenden Augen. Ihr dunkelblauer Farbton ist mit goldenen Sprenkeln durchzogen, was ihm zusätzlich etwas Geheimnisvolles verleiht. Nicht dass seine Ausstrahlung das noch nötig gehabt hätte. Sein Händedruck ist warm und genau richtig. Als er meine Hand ein wenig länger festhält als ich es gewohnt bin, spüre ich, wie die Röte in meinem Gesicht aufsteigt.
“Wollen wir uns setzen?”, bringe ich brüchig hervor und räuspere mich. Er lächelt.
“Gern.”
Scheinbar ist er derartige Reaktionen von Frauen gewohnt. Wir setzen uns und ich bestelle einen Cappuccino, ehe ich geschäftsmäßig mein Handy mit der Tonbandfunktion auf den Tisch lege und meinen Notizblock hervorkrame. Heimlich durchatmend streiche ich eine meiner roten Locken hinters Ohr und drücke auf den Button für die Aufnahme.
“Okay, fangen wir an?”, beginne ich und bemühe mich, seinem Blick standzuhalten. Sein wissendes Schmunzeln bringt meine Ohren zum Glühen, doch zu meinem Glück geht er nicht weiter darauf ein, dass ich ihm jeglichen Smalltalk verweigere um das Eis zu brechen, sondern einfach loslege.
“Ich bin bereit”, erwidert er gelassen und lehnt sich gemütlich im Stuhl zurück.
Das kann ich mir vorstellen, zuckt es mir durch den Kopf, doch dann reiße ich mich zusammen.
“Unser Thema heute lautet ‘Das Verhalten von Werwolfrudeln gegenüber fremden Wölfen`. Möchtest du vorher etwas über dich erzählen?”
Ich notiere die Frage und hebe anschließend den Blick, um ihn abwartend anzusehen. Seth hebt beide Arme und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Auf seinem linken Arm prangt an der Innenseite des Oberarms eine Tätowierung in arabischen Schriftzeichen. Scheinbar sehe ich zu auffällig hin, denn sein Blick folgt meinem, ehe er erklärt, was dort steht. “Es bedeutet ‘Wolf’.”
“Was ist das für eine Sprache?”, hake ich nach und lege den Kopf flirtend auf die Seite. So unprofessionell habe ich mich noch nie zuvor verhalten. Allerdings habe ich auch noch nie zuvor einen Werwolf interviewt. Für die nächsten Gespräche muss ich mich definitiv besser wappnen.
“Sehr altes Hebräisch. Das spricht in dieser Form heutzutage niemand mehr. Ich habe dem Tätowierer das Wort aufgezeichnet.”
“Also bist du älter?” Die Frage rutscht mir raus, noch bevor mir klar wird, was ich da frage. Peinlich berührt räuspere ich mich erneut, wage es aber nicht, die Frage zurück zu ziehen. Glücklicherweise reagiert er gelassen.
“Ist ne Weile her, dass ich zwanzig war.”
“Gibt es sonst noch etwas, das du über dich erzählen möchtest, bevor wir anfangen?”, hake ich nach, doch er schüttelt nur den Kopf. Sonderlich gesprächig scheint er nicht, wenn es um ihn selbst geht. Also nicke ich und werfe einen Blick auf die erste Frage, die ich mir notiert habe.
Paige: Was passiert, wenn ein Rudel auf einen fremden Werwolf trifft?
Seth: Das kommt darauf an, ob es sich bei dem Wolf um einen Wanderer, oder um einen Schattenwolf handelt.
Paige: Was ist denn der Unterschied?
Seth: Ein Wanderer ist ein einfacher Werwolf. Einfache Werwölfe werden in einem Rudel immer Willkommen geheißen – das ist eine unserer Regeln. Ein Schattenwolf hingegen ist ein Alpha ohne Rudel. Schattenwölfe sind mehr oder weniger zum Abschuss frei gegeben, da immer die Gefahr besteht, dass der fremde Alpha dem herrschenden sein Rudel abzunehmen versucht.
Paige: Okay, das ist nachvollziehbar. Schließlich hat niemand Lust, sein Rudel abzugeben und selbst als Schattenwolf durch die Welt zu ziehen. Interessant finde ich es, dass Wanderer immer aufgenommen werden. Wie kam es zu dieser Regel unter Wölfen?
Seth: Es liegt in unserer Natur. Ein fremder Wolf hat dir nichts getan – wieso sollten wir ihn also ausschließen, nur weil er von außerhalb unserer Gruppe kommt? Ein Werwolf unterstellt einem Fremden nicht einfach, dass er ihm Böses will. Wir gehören einer Rasse an und sitzen damit alle im selben Boot. Das Alphas nicht akzeptiert werden, hat eher mit den Machtverhältnissen im Rudel zu tun. Es liegt in ihrem Instinkt, ein Rudel um sich zu sammeln, also gibt es einen Grund, sie vom eigenen fern zu halten. Deshalb werden Jungwölfe, die sich als Alphas herausstellen, auch aus dem Rudel verstoßen, sobald sich die Situation zuspitzt
Paige: Ihr verstoßt die jungen Alphas? Aber sind die Rudel nicht so etwas wie eine Familie?
Seth: Ja, sonst legen sie sich immer wieder mit dem vorherrschenden Alpha an und das würde so weit gehen, bis einer den anderen auslöscht. Das Rudel ist sogar noch mehr als eine Familie. Das Gefühl der Verbundenheit geht sehr viel tiefer. Auch, weil der Wolf sein Rudel selbst wählt. Er entscheidet, ob er sich dem Alpha anschließt und der Alpha entscheidet, ob er den Wolf aufnimmt.
Paige: Ich dachte ein Alpha, bzw. sein Rudel muss jeden Wanderer aufnehmen?
Seth: Erst mal ja. Wanderer bleiben oft aber nicht lange und sind nicht dauerhaft ein Teil des Rudels. Sie leben und jagen mit dem Rudel solange sie es wünschen und gehen wieder, wann es ihnen passt. Sobald ein Wanderer dem Rudel schadet, hat der Alpha aber auch das Recht, ihn zu verstoßen. Die Erstaufnahme ist eine Art Gastfreundschaft, die unter Wölfen üblich ist. Im Rudel ist man als Wolf immer sicherer und diese Sicherheit darf keinem Wolf verwehrt werden, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Findet das Rudel aber einen Welpen vor, kann der Alpha entscheiden, ob das Rudel ihn durch die Wandlung begleitet und aufnimmt, oder ob sie weiter ziehen.
Paige: Also ist nach euren Gesetzen grundsätzlich jeder Wolf erst mal unschuldig?
Seth: *lacht* Unschuldig ist keiner von uns. Aber ja: Solange er sich dem Rudel oder einem der Wölfe gegenüber nichts hat zu schulden kommen lassen, gilt er als unschuldig und hat das Recht auf Gastfreundschaft.
Paige: Die Gemeinschaft der Werwölfe ist also eng verbunden?
Seth: *wiegt den Kopf* Nicht direkt. Einzeln herumstreifende Wölfe werden in die Rudel aufgenommen. Sie sind dort sicherer und jeder einzelne Wolf stärkt das Rudel. Wir sorgen für die Unseren. Wenn aber zwei Rudel aufeinander treffen, weil eines zum Beispiel in das Gebiet des anderen eingedrungen ist, kann es zu Überfällen und gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen. Deshalb halten sich wandernde Rudel von Gebieten fern, von denen bekannt ist, dass sie von Stammrudeln besetzt sind.
Paige: Also gibt es auch ganze Rudel, die immer umher wandern. Da herrscht ja ganz schön Bewegung bei euch.
Seth: Wir sind ne aktive Rasse. *grinst*
Paige: Ich finde es bewundernswert, dass ihr für Fremde sorgt, wenn sie Hilfe und Schutz brauchen.
Seth: Das sollte selbstverständlich sein. Jeder von uns braucht mal Hilfe. Ein Gleichgewicht kann nur durch Geben und Nehmen gehalten werden. Sobald eine Seite nur noch nimmt und die andere Seite unterdrückt, gerät die Welt ins Ungleichgewicht. Es würde zu Unzufriedenheit kommen, zu einzelnen Lagern, Streit und Kämpfen. Einen Krieg zu führen, nur weil einer mehr hat als der andere, ist einer der unnötigsten Gründe überhaupt.
Paige: Wieso?
Seth: Weil sich dem, der mehr hat, immer die Gelegenheit bietet, etwas davon abzugeben. Zu teilen. Das macht aus einem “Zuviel” und einem “Zuwenig” zwei gleich große “gerade richtig”.
Ich bin baff. Beeindruckt mustere ich meinen Gesprächspartner, der noch immer so entspannt wirkt, als könnte ihn nichts auf dieser Welt erschüttern. Ich frage mich, wie alt er wirklich ist. Erst als er die Augenbrauen fragend anhebt, bemerke ich, dass ich ihn schon seit einer Weile schweigend anstarre. Also räuspere ich mich zum dritten oder vierten Mal in diesem Gespräch und bringe ein schiefes Lächeln zustande.
“Das war beeindruckend. Ich meine, eure Art ist beeindruckend. Und gar nicht so, wie man denkt.”
Wieder ist da dieses charmante Lächeln auf seinen Lippen, das mich innerlich fast aufseufzen lässt.
“Wir sind schließlich alle nur Menschen”, erwidert er, zwinkert mir zu und trifft damit eine Aussage, die mich noch die nächsten Wochen beschäftigen wird.
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