In Berlin Neukölln, auf Höhe der Fuldastraße, gibt es einen unscheinbaren Hauseingang.
Er sieht aus, wie jeder andere Hauseingang auch, doch wenn man durch die Tür geht, führt einen ein kurzer Gang zu einem Treppenhaus.
Oben liegen ein paar Wohnungen, steigt man jedoch nach unten, landet man vor einer schalldichten Brandschutztür, auf der in roter klecksiger Farbe der Name “Fang Royal” steht.
Vor dieser stehe ich nach einigem Suchen und überlege, ob ich wirklich eintreten soll.
In meiner Arbeit als Angestellte der Berliner Außenstelle des Bundesamtes für magische Wesen habe ich schon so einiges erlebt – aber in die sprichwörtliche Höhle des Drachen einzutreten, ist noch einmal ein ganz anderes Kaliber.
Trotzdem gilt es, den Hinweisen nach Drachensichtungen im Berliner Luftraum nach zu gehen und den damit in Verbindung stehenden Vorwürfen, dass vermehrt junge Mädchen verschwinden.
Also hole ich ein letztes Mal tief Luft, straffe mich innerlich wie äußerlich und ziehe am Hebel der schweren Tür.
Ächzend zerre ich daran.
Nur Milimeterweise scheint sie sich zu bewegen, bis sie plötzlich einen wahren Satz macht und ich mit einem “Huch” zwei Schritte zurückstolpere.
Erschrocken blicke ich in die Augen eines Orks, der von innen nachgeholfen hat und mich nun neugierig mustert.
“Watt n nu? Raus oder rein?”, brummt er mit einer tiefen Basstimme in einem Berliner Dialekt, der ihm etwas Komisches verleiht.
“Ehm rein. Danke.”
Erneut straffe ich mich, hebe das Kinn noch ein Stück höher und marschiere sicheren Schrittes an ihm vorbei.
Es ist ein Verhalten, das mir schon am ersten Tag der Ausbildung beigebracht wurde – niemals Angst zeigen.
Die Bar, die ich betrete, ist überraschend groß. Die Wände sind unverputzt und sanftes Schummerlicht verpasst den Ziegelwänden eine gemütliche Atmosphäre.
In der Ecke stehen drei altmodische Billiardtische, ausgeleuchtet von Hängelampen, außerdem gibt es zwei Flipperautomaten und vier überdimensionale Dartscheiben mit entsprechend großen Pfeilen.
Die Bar selbst zieht sich über die gesamte Länge einer Wand und besteht aus rustikalem Holz. Der Rest des Raumes ist um eine Tanzfläche herum mit Stühlen und Tischen gefüllt.
Es ist Vormittags, weshalb die Bar noch so gut wie leer ist. Lediglich in der Ecke sitzen ein paar Vampire an einem der größeren Tische und pokern, zwei Orks stehen in der Nähe der Tür an den Flipperautomaten und zwei junge Mädchen huschen durch den Barraum, wischen Tische ab, sammeln Gläser ein und fegen den Boden.
Eines der Mädchen, eine hübsche Brünette, kommt mir bekannt vor, doch noch ehe ich festlegen kann woher ich sie kenne, bewegt sich etwas hinter der Bar.
Etwas Großes. Der Grund wieso ich hier bin.
“Kann ich helfen, schöne Frau?”
Die Stimme des Drachen klingt rauchig und samtig zugleich und der Blick aus seinen gelben Augen ist überraschend gutmütig.
Kleine Rauchwölkchen steigen hin und wieder aus seinen Nüstern auf, während er ruhig da steht und mit unerwartet feingliedrigen Klauen ein Glas poliert.
“Sind Sie Konstantin Fang?”
“Davon gehe ich aus”, ist die schwammige Antwort, gefolgt von einem gutmütigen Schnaufen, durch das kleine Flammen sein Maul umwabern.
“Sie müssen die Dame vom Amt sein. Man hat Sie angekündigt.”
“Ja genau, Stone mein Name. Ich komme wegen der gemeldeten Drachensichtungen in letzter Zeit.”
“Vergessen Sie da nicht die verschwundenen Jungfrauen, die ich gefressen haben soll?”, hakt er nach, dabei das Glas betrachtend, ehe er es wegstellt und beide Klauen auf die Theke stützt, um mich genauer zu inspizieren.
“Nein. Ich meine Ja. Das wurde auch gemeldet.”
Ich räuspere mich peinlich berührt und lasse meinen Blick zur Seite schweifen, als das Mädchen von eben ein Tablett mit schmutzigen Gläsern auf die Theke schiebt, sich ein wenig vorbeugt und die Gläser neben das Waschbecken stellt, damit sie ihr Tablett wieder mit nehmen kann.
Wieder überkommt mich das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, aber Fang lenkt mich in diesem Moment ab.
“Dann stellen Sie mal Ihre Fragen.”
Völlig gelassen stellt er das Wasser an und fängt an, die neuen Gläser abzuspülen und sie auf das Trockengitter zu stellen, während wir sprechen.
Fasziniert schaue ich ihm dabei zu, wie er trotz Klauen jedes Glas gewissenhaft reinigt und abspült – denn wann sieht man schon mal einen Drachen Gläser spülen?
Erst als ich seinen auffordernden Blick auf mir spüre, erinnere ich mich daran, wieso ich hier bin, räuspere mich und krame meinen Fragenkatalog aus der Tasche.
“Ihre Genehmigung für diese Bar ist aktuell habe ich gesehen, Ihre Aufentshalt- und Arbeitsgenehmigung ebenfalls. Wie bewegen Sie sich in der Stadt?”
“Ich halte mich an das bereitgestellte Tunnelsystem unter der Stadt und fliege nur den letzten Teil zu meinem Haus. Ich wohne etwas außerhalb von Berlin. Außerdem reise ich gegen Mitternacht ab und im Morgengrauen wieder an.”
Ich mache meine Notizen und hebe dann den Blick.
“Das sind nur etwa vier Stunden, abzüglich der Wegzeit. Schlafen Sie so wenig?”
“Gehört das zur Befragung?”
“Nein. Entschuldigung.”
Ich spüre die Hitze in meinen Wangen weil ich meiner Neugier nachgegeben habe und senke den Blick wieder auf meinen Fragebogen.
“Kannten Sie die verschwundenen Mädchen?”
Begleitend zu meiner Frage lege ich ein paar Vermisstenanzeigen auf der Theke aus und schiebe sie zu ihm hinüber.
Er beugt sich vor, die Klauen mit einem Handtuch trocken tupfend und tippt mit einer Kralle schließlich auf eine der Anzeigen.
“Das ist Maria. Sie haben sie hier schon gesehen.”
Tatsächlich. Es ist das Mädchen das die Tische abgeräumt hat und mir so bekannt vorkam.
Als ich mich suchend nach ihr umdrehe, ist sie allerdings verschwunden.
“Wahrscheinlich ist sie gerade rauchen”, kommentiert Fang meinen suchenden Blick und begutachtet auch die anderen Anzeigen.
“Sie ist von zu Hause weggelaufen als ihr Stiefvater anfing sie zu verprügeln. Ich hab sie außerhalb der Stadt aufgelesen und ihr eine Stelle angeboten. Also hat sie sich die Haare abgeschnitten, gefärbt und jobbt jetzt hier. Sehr zuverlässiges Mädchen.”
Nun bin ich in der Zwickmühle, denn ich muss dem Amt melden, das ich eines der Mädchen gefunden habe.
“Die anderen kenne ich nicht.”
Ich räume die Anzeigen also wieder in die Mappe und verstaue sie in meiner Handtasche.
“Sie werden tun was Sie können, nicht wahr?”, fragt er mich mit prüfendem Blick.
Innerlich würde ich am liebsten vergessen das ich sie hier gefunden habe, äußerlich aber muss ich professionell bleiben.
“Ich muss das Mädchen leider melden. Aber ja, ich werde anregen, das man die besonderen Umstände beachtet. Vielleicht bekomme ich sie im neu geplanten Schutzprogramm unter. Dann müssen Sie aber mit regelmäßigen Kontrollen leben.”
“Das ist kein Problem.”
Ich mache mir eine Randnotiz auf meinem Block und fahre schließlich fort zur nächsten Frage. “Ein Landwirt hat gemeldet das ein Drache die Schafe seines Kollegen gefressen hat. Der Kollege leugnet es allerdings.”
“Wenn besagter Kollege auf den Namen Britznek hört, habe ich seine Schafe gefressen.”
Das trockene Geständnis überrumpelt mich, was er mir wohl auch ansieht, als ich erschrocken den Blick hebe und seinem begegne.
“Also.. ähm. Gut.”
Für den Moment bin ich aus dem Konzept gebracht, denn normalerweise treffe ich auf lügende Vampire, flirtende Werwölfe oder dickköpfige Hexen – nicht auf geständige Drachen.
“Dann nehme ich das so auf.”
“Schreiben Sie dazu, dass ich dafür bezahlt habe.”
Wieder hebt sich mein Blick, fragend dieses Mal, was ihn zu einer weiterführenden Erklärung veranlasst.
“Ich muss irgendwie satt werden. Also habe ich mit ihm einen Deal gemacht. Er zieht mir ein paar Schafe auf einer abgetrennten Koppel auf und ich komme zum Fressen vorbei wenn ich hungrig bin. Dafür erhält er einen monatlichen Betrag und stellt mir eine bestimmte Anzahl an Schafen zur Verfügung.”
“Eine Schaf-Flat sozusagen”, rutscht es mir raus, doch er nickt nur.
“Sozusagen.”
Unschlüssig kritzele ich ein paar Notizen auf meinen Block, streiche durch, schreibe neu und tippe schließlich mit dem oberen Ende meines Stiftes immer wieder aufs Papier.
“War das die letzte Frage?”, kommt es vom Bardrachen, woraufhin ich nur nachdenklich nicke und den Block schließe.
“Und wie steht es mit der persönlichen Frage?”
Eine Frage, die er mir augenscheinlich aus den Augen ablesen kann.
“Naja.. ist es nicht irgendwie grausam, wenn Sie die Schafe dort einpferchen lassen, sodass sie nicht entkommen können und sie dann lebendig .. fressen?”
Ich bin mir nicht sicher, ob das so gut ankommt, doch bislang lief das Gespräch überraschend entspannt ab. Die alten Verhaltensregeln gegenüber Drachen sollten vielleicht noch einmal überarbeitet werden, denn nach diesem Gespräch kann ich nur bestätigen, das sie zu steif und überholt sind. Vielleicht hat sich aber auch nur dieser spezielle Drache angepasst. Wer eine Untergrundbar in Berlin Neukölln betreibt, die pokernde Vampire und berlinernde Orks anlockt, sollte eben so einiges gewöhnt sein.
“Grausam…”, antwortet er mir schließlich nachdenklich und mustert mich dabei prüfend.
Offenbar versucht er, meine Frage einzuschätzen.
Oder er geht die neuesten Rezepte in seinem Kopf durch. Hallo Vorurteil.
Nervös streiche ich mit den Fingern über die glatte Theke, bis er schließlich seinen massigen Kopf schüttelt.
“Nein ich denke nicht. Das Gehege ist groß genug zur Flucht und außer in den Momenten in denen ich zum Speisen vorbei komme, haben sie dort ihre Ruhe.”
Mir fällt unangenehm auf, dass er das Wort ‘speisen’ verwendet, während ich ‘fressen’ nutzte.
So ganz kann er das was er ist – ein Drache, der sich nun einmal gewählt ausdrückt – wohl doch nicht abstreifen, auch wenn er eine Untergrundbar führt.
“Darf ich auch eine Frage stellen?”
“Uhm.. klar.”
Ich bin überrascht darüber, dass ein Drache mir Fragen stellen möchte, willige aber ein. Schließlich ist es nur fair, nachdem ich ihn so gelöchert habe.
“Finden Sie es denn im Gegenzug nicht auch grausam?”
Ich runzele die Stirn und verstehe im ersten Moment nicht was er meint, doch da spricht er schon weiter.
“Die Schafe, die ich fresse, haben ein schönes Leben – dafür zahle ich eben etwas mehr. Die Tiere, die ihr Menschen konsumiert, wachsen in kleinen dunklen Stellplätzen und Boxen auf. Meistens können sie sich ihr Leben lang kaum bewegen. Ich glaube, sie bekommen auch nie richtiges Gras zu sehen. Stattdessen stehen sie in ihrem eigenen Mist. Und das so lange, bis sie in Transporter gequetscht werden, wo sie angsterfüllt übereinander fallen und stolpern. Stundenlang, wenn sie nicht auf der Reise schon sterben. Die Überlebenden stehen zwischen ihren toten Geschwistern und werden am Ankunftsort von einer Maschine zerfetzt, in die sie hinein getrieben werden.”
Während er sprach, hat er seine Klauen wieder ins Spülbecken getaucht und ganz ruhig die restlichen Gläser abgewaschen.
Nun greift er nach dem Handtuch und nimmt sich das erste Glas vor, um es zu trocknen und zu polieren.
“Ich finde das entwürdigend. Sie nicht?”, schließt er seine Frage ab – die ich nicht beantworten kann.
Stattdessen bin ich baff. Baff und absolut zu hundert Prozent sprachlos.
Als sich eine eiskalte Hand in meinen Nacken schiebt und mich aus meinen Gedanken reißt, zucke ich erschrocken zusammen, entspanne aber, als ich die dazugehörige Stimme erkenne.
“Lieferst du dir schon wieder Sprachduelle, Kon?”, hakt der Vampir der neben mir steht amüsiert nach und wendet sich anschließend belustigt an mich.
“Mach dir keinen Kopf. Bis jetzt hat er noch jeden in Grund und Boden diskutiert. Das ist eine seiner Spezialitäten.”
“Nur das er bei mir nicht lang gebraucht hat. Hi Laurence”, brumme ich vor mich hin, erwidere das versöhnliche Zwinkern des Drachen aber mit einem Lächeln.
Laurence lacht, wobei seine schneeweißen Fänge besonders gut zur Geltung kommen.
“Er braucht bei Niemandem lange”, beruhigt er mich und schiebt sich anschließend auf den freien Barhocker neben mir.
“Wann kommst du wieder zum Kontrollbesuch? Anita vermisst dich schon”, plappert er gut gelaunt drauflos und bestellt eine Bionade – natürlich die Rote.
“Hier, ich lad dich ein”, meint er gutmütig und schiebt sie mir zu, während sich Konrad Fang nun wieder seinen Gläsern widmet, offensichtlich zufrieden mit dem Gespräch.
“Nächste Woche schicke ich die neuen Termine raus. Eure Mailadresse hat sich nicht geändert?”
“Nein, ist immer noch die Selbe. Ich bin froh das Anita endlich verstanden hat wie man Mails schreibt – das bleibt schön alles so wie es ist”, witzelt der Vampir und mustert mich.
“Also, erzähl. Wie ist es dir in den letzten Wochen ergangen?”
Ein Vampir, der mich auf eine Bionade einlädt, um zu hören wie es mir geht.
Im Hintergrund pokert der Rest der Vampirgruppe, während die Orks sich lautstark mit den Flipperautomaten beschäftigen und der Bardrache der getürmten Jungfrau dabei hilft, ein paar Kisten aus dem Lager zu schleppen.
Geliebter Arbeitsalltag im Bundesamt.